Ist es wirklich der Körper – oder ist es die Gesellschaft?
- J.H.
- 19. Jan.
- 2 Min. Lesezeit
Aktualisiert: 23. Apr.
Warum haben manche Menschen das Gefühl, im falschen Körper zu leben, das falsche Geschlecht zu haben?
Oft wird Transidentität eingleisig verstanden: Der Körper stimmt nicht mit dem inneren Empfinden eines Menschen überein. Doch diese Erklärung greift zu kurz, wenn wir uns fragen: Was genau macht dieses „Unstimmige“ eigentlich aus? Ist es tatsächlich der Körper selbst, der nicht passt – oder ist es vielleicht vielmehr das, was die Gesellschaft mit diesem Körper verbindet? Ihm gar aufbürdet und keinen Spielraum zulässt?
Von klein auf werden uns Vorstellungen vermittelt, was es heißt, eine Frau oder ein Mann zu sein. Nicht nur oberflächliche Klischees – sondern tief verankerte Erwartungen an Verhalten, Auftreten, Ausdruck, Stimme, Kleidung, sogar Gang und Gestik.Diese Erwartungen sind nicht optional – sie prägen unsere Identität, ob wir es wollen oder nicht. Und sie engen uns ein.
Frauen und Männer sollen die Rollen annehmen und spielen, die unsere Gesellschaft ihnen seit Jahrtausenden zuweist. Wer davon abweicht, gilt als irritierend, als unpassend, als falsch – manchmal gar als abartig.
Was aber, wenn jemand sich nicht falsch fühlt, weil der Körper „nicht passt“, sondern weil er in einem System gefangen ist, das diesem Körper eine Rolle zuschreibt, die sich falsch anfühlt? Was, wenn das Unbehagen nicht im Körper beginnt – sondern in der gesellschaftlichen Deutung dieses Körpers? Was, wenn das Leben in und mit diesem Körper durchaus passen würde, wenn man sich nur geben und entwickeln könnte, wie man möchte – jenseits der Erwartungen, jenseits der Zuschreibungen?
Vielleicht würden sich viele Menschen in ihrem Körper wohler fühlen, wenn sie darin einfach nur sie selbst sein dürften – ohne die starren Erwartungen daran, wie eine Frau oder ein Mann zu sein hat.
Ist Transsein also in manchen Fällen nicht Flucht vor dem Körper, sondern eine Flucht vor dem gesellschaftlichen Zwang,eine Rolle spielen zu müssen, die nie zur eigenen Identität gepasst hat – wobei der Körper nur das sichtbare Symbol dieser Fremdzuschreibung ist? Und vielleicht ist das eigentliche Problem nicht, dass sich Menschen verändern wollen –sondern, dass sie das Gefühl haben, es tun zu müssen, um der eigenen Persönlichkeit Platz zu schaffen – jenseits der engen Grenzen, die der Körper gesellschaftlich vorgibt.
Eine offene Gesellschaft – eine wirklich offene – würde diesen Zwang auflösen. Sie würde ermöglichen, dass Menschen sich frei entfalten können. Sie würde Kindern und Erwachsenen erlauben, herauszufinden, wer sie sind – ohne dass dies an ein Geschlecht gebunden sein muss. Sie würde Raum bieten für Vielfalt, für Ambivalenz, für Entwicklung, für Potenzial. Für leise Veränderungen, für Neins und Jas, für Jeins. Und keines davon müsste in Stein gemeißelt sein. Für das Recht, mit sich zu wachsen – in Ruhe. Ohne Mobbing. Ohne gesellschaftliche Abwertung. Ohne den Druck, irreversible Schritte zu gehen, die gefährlich und lebensbedrohlich sein können.
Sie würde es Menschen ermöglichen, sich auch später im Leben noch zu justieren – nachzuspüren, neu zu sortieren.Nicht, weil sie gezwungen sind – sondern weil sie dürfen. Weil niemand beweisen muss, dass er „echt“ ist. Weil Menschsein genügt – mit allen Facetten und Nuancen.